In der ungarischen Avantgardekunst nach 1945 war Miklós Erdély derjenige, der nahezu in allen seinen Werken, ob auf dem Gebiet der bildenden Kunst, der Dichtung oder des Films, die neuen Ergebnisse der Naturwissenschaften als Themen verwendet bzw. die aus ihnen abgeleiteten Methoden angewandt hat.

Aus den fünfziger Jahren ist uns Erdély’s Skizze zu einem Vortrag über die Relativitätstheorie erhalten geblieben, die mit den folgenden Sätzen beginnt:

“Die Theorie der Relativität ist das bedeutendste geistige Produkt des 20. Jahrhunderts. Gewöhnliche Sterbliche können sie, so wird es immer wieder behauptet, nicht verstehen, was zum großen Teil auch stimmt. Ein umfassendes Verständnis des Ganzen kann nur mit Hilfe mathematischen Wissens erlangt werden. Das Inventiöse der Grundidee und die Neuartigkeit der letzten Konklusionen ihres Anschauungsstandes jedoch kann man auch ohne mathematisches Wissen genießen.”

Eine eingehende Erörterung der Theorie soll von den Grundkenntnissen ausgehen, und zwar deswegen, “damit sich auch Mädchen mit der Relativitätstheorie beschäftigen können.”[2]

Die letzte, etwas häkelige Wendung über die Aufnahmefähigkeit der Mädchen hinsichtlich der Einsteinschen Theorie zeugt nicht nur für eine bestimmte gesellschaftliche Atmosphäre und nicht nur für das nichtprofessionelle Verhältnis des Künstlers zum wissenschaftlichen Thema; sie erinnert zugleich an die Atmosphäre jenes Werks, das Erdély später auch filmisch bearbeiten wollte, an die der Gespräche über die Vielheit der Welten von Bernard le Bovier de Fontenelle:[3] “Ein hochgebildeter Herr legt... auf langen Spaziergängen ein Weltbild auf der Grundlage der zeitgenössischen Kenntnisse der hübschen und skeptischen Marquise dar, die sich über ihn immer wieder lustig macht.”[4] - So Erdély über das Werk, und über die filmische Bearbeitung schreibt er später: “Wir versuchen... Ideen, Weltbilder und Stile miteinander zu konfrontieren, um somit den Zuschauer durch deren Auslöschung in die Richtung des von der Marquise vertretenen ursprünglicheren Seinsgefühls zu lenken.” Dieses Vorhaben erinnert wiederum an einen anderen Satz von Erdély, der in seinem Text über die Theorie der Montage steht: “Wenn wir von einer begrifflichen Welt hören, so ergreift uns die Angst, wir befürchten die Verarmung der Gefühle. Kunst ist ohne die emotionale Ebene nicht zu denken; und die Montage ist eine künstlerische Methode.”[5]

Erdély lag es nicht daran, eine der Abstraktionsebene der modernen, unanschaulichen Wissenschaft entsprechende, abstrakte Begriffskunst zu schaffen, eher wollte er die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse anschaulich machen, dem Maßstab der “gewöhnlichen Sterblichen” anzupassen, bzw. auf das “Künstlerische” in ihnen aufmerksam machen. Die anschaulichen Beispiele wurden oft von den Wissenschaftlern selbst geliefert, so etwa das Bild der Molluske von Einstein. Eine Fotografie des Künstlers aus dem Jahre 1969 trägt gerade die Inschrift Molluske (Molluszkum).

“Die Molluske ist der von Einstein gefundene Ausdruck für die zuckenden Koordinatensysteme. ... Einstein sagt, er wolle die Sätze der Relativitätstheorie so allgemein fassen - und das fordert eine größere Präzision -, damit die Gesetze selbst für ein Koordinatensystem gültig bleiben, das wir auf den Rücken einer Molluske gezeichnet haben. Das in der Biologie Molluske genannte Weichtier ist ständig im Zucken, und das ist die zuckende Koordinate... Als ich das las, spürte ich sofort, daß es hier um Kunst geht.”[6]

Das anschauliche Beispiel kann in der Kunst, wie etwa in Erdélys Fotografie Molluske, zur Metapher werden: Das Bild zeigt den Künstler auf dem Boden liegend, aus seinem Mund tritt etwas “Molluskenartiges” heraus.

Dieses “Etwas” ist das aus dem Spiritismus bekannte Ektoplasma, das durch den Mund oder die Ohren des Medium hinausfließt und eine Begleiterscheinung der Kommunikation mit den Geistern darstellt.[7] Die Familie Erdély betrieb spiritistische Experimente, so daß die wundersamen und zugleich schauerlichen Erscheinungen für den Künstler in seiner Kindheit etwas “Alltägliches” waren. Das “Sichtbarmachen” des für den Menschen nicht wahrnehmbaren Raum-Zeit-Kontinuums, des Transzendenten gehört in die Sphäre der Kunst und ist eben deshalb reine Illusion. Die Mittel der Sichtbarmachung, wie jene “wirklichkeitstreuen” Fotoaufnahmen, die im Spiritismus als Beweise gelten, sind zum einen verdächtig, zum anderen beunruhigend und verwirrend und können Geist und Phantasie des Menschen dazu anreizen, jene Fähigkeiten in sich aufzuspüren und einzusetzen, mit denen er auch über die Dinge jenseits des Faßbaren und Sichtbaren etwas erahnen kann. Zwei weitere Fassungen des Bildes Molluske markieren mit ihrer Inschrift Ahnungen (Sejtések) und Irrtum (Tévedés) die Bahnen des Vorhabens, und eine andere Inschrift der Fotografie Molluske weist auf die moralischen Dimensionen der Reise zwischen den inneren, äußeren und jenseitigen Welten hin: “Was zum Munde eingeht, das verunreinigt den Menschen nicht.”[8]

Diese Art “Grenzüberschritt” in Erdélys Kunst, die ihr Augenmerk im Zeichen der Auffassung von Joseph Kosuth, wonach “jedes Werk ein Vorschlag zur Deutung der Kunst” sei,[9] ständig auf das Neue richtete und die Grenzen der Kunst zu erweitern bestrebt war, kann als Metapher verstanden werden.[10]

Der 1928 geborene Miklós Erdély war bereits im reifen Mannesalter, als er sich Ende der 60er Jahre in künstlerischen Veranstaltungen mit Werken vorstellte, die vielfältige naturwissenschaftliche Bezüge hatten.[11] “Der Kompetenzkreis der Kunst hat sich in jenen Jahren (in der Zeit der konzeptuellen Kunst) allmählich erweitert... er ist immer interdisziplinärer geworden”, sagte Erdély im Jahre 1983. “Ich kannte das naturwissenschaftliche Denken, und ich war dessen bewußt, daß es viel weiter entwickelt ist als alles, was in der Kunst oder Philosophie überhaupt bekannt ist. In der Wissenschaft war bereits eine viel weitere und offenere, viel mehr aufgelockerte Denkweise proklamiert. Drei Quarks für König Marke (Három kvarkot Marke királynak) ... war ein wissenschaftliches Konzept. ... Hier wollte ich bereits, durch diesen Titel, die Kunst an die Naturwissenschaft binden.”[12] Das erwähnte Werk ist eine Aktion aus dem Jahr 1968, in der unter anderem zwei Texte von Erdély, Dirac vor der Kinokasse (Dirac a mozipénztár elõtt) und Ahnungen,[13] vorgelesen wurden.

In einem 1982 geführten Gespräch mit Zoltán Sebõk äußerte sich Erdély im Zusammenhang mit seinen zu jener Zeit entstandenen Texten etwas ausgiebiger über den Einfluß der Wissenschaft; seine Gedanken zum Thema sollen hier vollständig zitiert werden:

“E.: Ich habe 15 Jahren geschrieben, ohne jemandem etwas davon gezeigt zu haben ... Ich habe unheimlich viele Hefte vollgeschrieben und mich endlich auch in allen Sphären der Sprache durchgebissen ... und das Ende der Sprache erreicht ... Dann habe ich ... die sogenannte kategorische Poesie erfunden, die sich nicht auf der Ebene der Sprache, sondern auf der Ebene der Aussagen äußert.

S.: Auf Begriffsebene?

E.: Könnte man sagen, aber besser noch, auf Gestikebene. Die Aussage ist als Tat interessant. Ein bißchen ist das in den Losungen enthalten. Eine gut gewählte Losung wird zur Tat. Ich stehe auf und sage, Sie sind ein Rindvieh – sagen wir mal, bei einem Vortrag. Das ist ein kategorisches Gedicht. In einem gegebenen Kontext kann es einen ziemlich hohen Wahrheitsgehalt haben. Und hier bin ich in den Naturwissenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts auf die echte Inspiration gestoßen. Ich habe bemerkt, daß die Wissenschaft eine sehr starke Moral hat. In der Wissenschaft ist irgendwie das, was wahr ist, wichtiger als der Umstand, wer recht hat. Diese Moral hat mir gleich sehr gefallen. Die wahnsinnige Konzentration auf die Wahrheit hat in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts zu einem Weltbild geführt, das langsam wissenschaftsfeindlich wird. Ich glaube, den Zustand der Selbstauslöschung kann man nur mit einer sehr guten Moral erreichen, und die Wissenschaft scheint irgendwie diesen Weg einzuschlagen. Ihre eigene saubere Methode führt zur eigenen Beseitigung. In den Aussagen der Wissenschaft äußert sich eine tiefe Mystik, die mir weder von den Anthroposophen noch aus irgendeiner alten mystischen Lehre bekannt ist. In den alten mystischen Lehren sind diese Wahrheiten zwar formuliert worden, aber naiv und mit viel weniger Bedeutungstiefe, als notwendig wäre, um den modernen Menschen zu befriedigen. Ich habe mich davon beeinflussen lassen, und mir ist aufgefallen, daß die Schriften der großen theoretischen Physiker dieses Jahrhunderts weit über dem literarischen Stil stehen. Sie können einfach schöner schreiben. Genau deshalb, weil der Stil gleichbedeutend mit Moral ist, wie es – wenn ich mich recht erinnere – Gide formulierte.

Ich habe also viel die theoretischen und philosophischen Schriften[14] der Physiker unseres Jahrhunderts gelesen und gesehen, daß sie turmhoch über jeder mir bekannten Denkweise stehen. Sie repräsentieren ein mutiertes Gehirn in diesem Jahrhundert. Ich glaube, (Jenõ) Wigner sagte, daß er, wenn er mit János Neumann spreche, immer das Gefühl habe, im Halbschlaf zu sein, während János Neumann völlig wach sei. Dieses völlige Wachsein ist es, was mich so sehr beeindruckt, und diese Poesie steht für mich nicht auf einer niedrigeren, sondern auf einer höheren Stufe als zum Beispiel die von Joyce. Sie müssen Wahrheiten oder Modelle formulieren, die so weit von der Anschauung entfernt sind, wie es noch für keinen der Fall war. Sie sind zu sprachlichen Bravourstücken gezwungen ... In der zweiten Hälfte meines Gedichtbandes[15] ... habe ich mich an Aussagen versucht, die jene Art von Denkanstößen geben, die notwendig sind, um in die Nähe dieser neuen Betrachtungsweisen zu kommen.

S.: Worin äußert sich die sprachliche Bravour der Wissenschaft?

E.: Die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft haben sich unglaublich vom naiven Realismus entfernt. Die Sprache aber hat sich so entwickelt, daß sie diesem alltäglichen naiven Realismus dienen kann. Ich will ein Beispiel nennen. Dadurch, daß die Sprache Subjekt und Prädikat verwendet, modelliert sie auf ewig den Lehrsatz des Aristoteles, wonach die Bewegung nicht ohne Träger vorstellbar ist. Daß sich also immer etwas bewegt. In der Mikrophysik wird das aber vollkommen unmöglich. Darum lassen sich die Fakten der Mikrophysik gar nicht in unserer Sprache ausdrücken. Ich habe überlegt, ob es in unserer allgemeingebräuchlichen Sprache ein Wort gibt, das Subjekt und Prädikat zugleich sein kann. Ein einziges ist mir eingefallen, das ungarische Wort “havazik“ [es schneit], vielleicht trifft es auch noch für das Wort “hajnalodik“ [es dämmert] zu. Es gibt einen Aufruf von mir, in dem ich anrege, die Sprache so umzugestalten, daß niemals unterschieden wird zwischen dem, von dem etwas getan wird, und dem, das getan wird.[16] Ich habe nämlich das Gefühl, daß man sich in unserer Sprache nur irren kann. Eben das war der Grund, weshalb die moderne Poesie die Sprache zerschlagen mußte – was natürlich unbewußt geschah. Die Verwirrung des Bewußtseins kann durch die Verwirrung der Sprache erfolgen.

Während der modernen Poesie jedoch nicht bewußt war, warum sie die Sprache zerschlagen mußte, glaube ich, daß es mir bewußt ist. Die Sprache ist schlecht und nicht in der Lage, die Wahrheiten aufzunehmen, die zum Beispiel die Mathematik seit langem in sich aufsaugen konnte. Es ist Aufgabe des Dichters, die sprachlichen Bindungen zu lockern, um Platz für das Neue zu schaffen.“[17]

Das Fragmentarische der Sprache, die thesenartigen Aussagen und Wortmontagen, der abgehackte Dialog, dessen häufige Fragen und Ausrufe eine gewisse Unruhe ahnen lassen und aus welchem gerade das Reden über etwas verschwunden ist, das sind die charakteristischen Merkmale der erwähnten Texte. Der Gestencharakter des naturwissenschaftlichen Konzepts oder der kategorischen Poesie dagegen offenbarte sich in der Vortragsweise. Der erste Satz der eben erwähnten “Ahnungen I. ” lautet: “Das elementare Teil bin ich, um mich geht es, ich bin die Schwingung, ich bin die Strahlung, um dich geht es; aus erster Hand auf den Nervenbahnen.” Dieser Satz rüstet das Subjekt mit einer quantenphysischer Dimension aus, und bei der Vorlesung hat Erdély “nach jedem Satz eine Papierrakete gegen ein großformatiges Foto, ein Frauenporträt, geworfen.”[18]

“1. Wie ist es also? / 2. Zeit und Raum also. / 3. Lassen wir das!” So der Dialog in Dirac.

“Die Relativitätstheorie wurzelt noch... in der klassischen Physik... Mit dem Newton-Einsteinschen Weltbild brach erst die Quantenmechanik”, schreibt der Wissenschaftshistoriker György Marx,[19] und in der Ruhelosigkeit der Sätze kann man vielleicht gerade den durch die Auseinandersetzung mit dem neuen Weltbild entstandenen Zustand nachvollziehen. In der Fotoserie Schwur (Eskü) (1969) erblickt man auf der Brust des Künstlers ein Zitat von Schrödinger, eine ebenfalls nicht ganz emotionsfreie Beschreibung der epistemologischen Bedeutung der neuen Erkenntnisse:[20]

“Planck hat 1900 gesagt – und im Grunde ist es noch heute wahr – , daß die Strahlung des rot glühenden Eisen oder des weiß glühenden Sterns, zum Beispiel der Sonne, nur damit zu erklären ist, daß sich die Strahlung in Quanten bildet und daß sie von einem Träger auf den anderen (zum Beispiel von Atom zu Atom) nach Quanten übergeht. Das überraschte, denn bei der Strahlung handelt es sich um Energie, ein Begriff, der ursprünglich sehr abstrakt war und das Ausmaß der Wechselwirkung beziehungsweise der Wirkungsfähigkeit dieser kleinsten Träger ausdrückte. Die Teilung in begrenzte Quanten rief große Verblüffung hervor – nicht nur bei uns, sondern auch bei Planck. Fünf Jahre später erklärte Einstein, daß die Energie Masse hat, daß die Masse Energie ist und daß beides ein und dasselbe ist. Dies hat bis heute nicht an Gültigkeit verloren. Es war, als würden uns Schuppen von den Augen fallen: Unsere lieben Atome, an die wir uns seit langem gewöhnt haben, unsere Elementarteilchen sind nichts anderes als Quanten der Planckschen Energien. Und die Träger der Quanten sind ebenfalls Quanten. Es wird einem ganz schwindlig. Man spürt, daß alles die Grundlage einer ganz fundamentalen Sache ist, die wir noch nicht verstehen. Denn die oben erwähnten Schuppen sind uns nicht mit einmal von den Augen gefallen. Zwanzig-dreißig Jahre vergingen. Und völlig klar sehen wir vielleicht auch heute noch nicht.“ (Erwin Schrödinger)

Der Serie aus 6 Fotomontagen ist eine selbständige Montage angegliedert, auf welcher das vom Wissenschaftler benutzte Wort Schuppen (med. Katarakt, ung. Hályog) zu lesen ist. Das im Text angedeutete wissenschaftliche Problem und seine Konsequenzen, die doppelte, Wellen- und Teilchennatur des Lichts, das Prinzip der Komplementarität,[21] die Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation,[22] der Gegensatz von Kontinuität und Diskontinuität[23] haben Erdély auch später beschäftigt. Über die Bedeutung des letzten, des Gegensatzes zwischen Kontinuität und Diskontinuität auf dem Gebiet der Wissenschaft wie der Kunst schrieb der Wissenschaftshistoriker László Vekerdi in einem Aufsatz, der 1972 in der Zeitschrift Fotómûvészet (Fotographie) erschien: “...um die Jahrhundertwende... haben viele Wissenschaftler lieber ihren Augen nicht geglaubt und die Existenz der Atome nicht anerkannt, nur damit sie das tief verwurzelte Schema der Kontinuität nicht aufgeben müssen. Dann hat sich in der Wissenschaft plötzlich alles verändert, und allmählich und manchmal kaum bemerkbar vollzog sich die Veränderung auch in der Welt der Künste. Irgendwie ist die Kontinuität aus der Sache verschwunden.”[24] Vekerdi beschreibt parallele Entwicklungen in der Wissenschaft und der Kunst, nicht nur hinsichtlich der neuen Strukturen, sondern auch der durch diese ausgelösten Reaktionen (wie etwa das Unverständnis gegenüber dem Neuen).[25] In Erdély’s Schwur sind Affekt und Ergriffenheit in der Geste der Schwur[26] und in der Montagetechnik gleichzeitig vorhanden. Die Montage vertritt einen der konventionellen bildlichen Darstellung, der “Ganz-heit des Bildes” (Vekerdi) und der dadurch ausgedrückten Haltung “vollkommen entgegengesetzten Affekt, und zwar dadurch, daß sie mit der Schere in das ... Bild des status quo schneidet.” So Erdély in einem 1975 geschriebenen Vortrag über Montageaffekt und -effekt. Im Vortrag beruft sich Erdély mehrmals auf die 1974 geführte interdisziplinäre Montagediskussion, an der er selbst teilnahm, dem Wesen des Montageaffekts jedoch schreibt er diesmal eine größere Allgemeingültigkeit zu. Die Schöpfungen, die auf einer bestimmten Stufe der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins als Produkte des Bewußtseins entstehen, nennt er Wirklichkeitsmontagen und begründet damit dieses wichtige Verfahren der modernen Kunst nicht aus dem Aspekt der Soziologie, sondern aus dem der Anthropologie und Philosophie:[27] “Die Analogie zwischen Bewußtsein, Denken und Montage kann noch von einer anderen Seite betrachtet werden... Der Unterschied zwischen der Wirklichkeit und ihrem Bild im Bewußtsein kann so bestimmt werden, daß man der Kontinuität der ersten die in Begriffe “quantierte”, abgebildete Wirklichkeit gegenüberstellt, die in ihrer Form restlos dem beliebigen Neuordnen ausgeliefert ist.[28] Die mit diskreten Begriffen geführte Kombinatorik, das Denken, ist jene Autonomie des Geistes selbst, die von Popper die dritte Welt genannt wird.”[29]

Die nach der Analogie des Denkens funktionierende Montage erweist sich aber “nicht selten als die Selbstironie der Struktur des Geistes”, es ist der Wunsch des Unsichtbarwerdens, der Befreiung vom “Fluch” des Bewußtseins, der in ihr zum Ausdruck kommt. “Für die bedrängte Psyche ...würde diejenige (d. h. sie selbst) verschwinden, die die verbotenen Dinge (als verbotene) wahrnehmen würde, und auch das, was zu verheimlichen ist.” Im Zusammenhang des Textes wird der Hinweis auf die biblische Geschichte noch offensichtlicher.[30]

Die Montage aber, die insofern der Ort der Gegensätze ist, ist zugleich die Möglichkeit, sie zu überwinden. Nach Beispielen aus den Gebieten der Wissenschaft, Kunst und Mystik sowie aus der Praxis der fernöstlichen Zenbuddhisten und ihrem Vergleich gelangt Erdély zur Feststellung: “Die Aufhebung der Paradoxa ist nur um den Preis des Selbstverbots des Bewußtseins möglich. Dieses Selbstverbot des Bewußtseins nennen wir Bedeutungsauslöschung, die zu einer höheren Einsicht, zum Erreichen der totalen Bedeutungsebene führt.” Diese letzte ist jene Schicht des Bewußtseins, “wo dieselbe Kontinuität wie im Gefühlswelt herrscht, und aus welcher die Bildung der Analogien und Metaphern sowie die verschiedenen künstlerischen Ausdrucksmittel abzuleiten sind.”

Die Beispiele, die Erdély in seiner Montagetheorie von den verschiedenen Gebieten der Wissenschaftsgeschichte, aus Linguistik, Mengentheorie und den Theorien über das Unendliche und die großen Zahlen zitiert, zeugen für seinen nahezu besessenen Fleiß, mit dem er in den sechziger und frühen siebziger Jahren wissenschaftliche Nachrichten und Informationen sammelte. Auf der Rückseite der Zeitschrift Fizikai Szemle (Physikalische Rundschau) fand er die Nachricht, auf welche er sich später mehrmals berief, den Bericht über die C.E.T.I.-Konferenz, die er 1973 zum Thema einer Aktion im Rahmen der Veranstaltung Der Wolf kommt! Populärwissenschaftliche Aktionen, anschauungsformende Übungen machte.[31]

Erdély führt einen Film über verschiedene Berührungen vor, während eine Frauenstimme die Bestimmungen der Konferenz über die Fragen der außerirdischen Kommunikation (C.E.T.I.) herunterleiert. Eine Dame in indischer Tracht hält, während der Film noch läuft, einen sechs Meter langen Papiertrichter zwischen den Projektor und Erdély’s Mund, der seine Schrift Mondolat in den Trichter spricht. So beschreibt László Beke die Aktion. “Mondolat ist eine Anklage gegen das Viele, deren Grundidee, daß jedes elementare Teilchen, falls es wirklich elementar ist, das Ganze in sich enthält, mit dem Hologrammprinzip der Erdélyschen Zustandkommunikation zusammenhängt, das unter anderem durch das Motiv der indischen Tänzerin im Film Partita (1974) verkörpert wird.”[32]

Im Bericht über die C.E.T.I.-Konferenz heißt es: “In den zehn Sektionen der Konferenz wurde die Problematik der außerirdischen Zivilisationen aus den verschiedensten Aspekten erörtert. Die Aufmerksamkeit der Teilnehmer galt besonders folgenden Fragen: Pluralität der Planetensysteme im Weltall, Ursprung des Lebens auf der Erde, Möglichkeit der Entstehung von Leben auf anderen Himmelskörpern, Ursprung und Entwicklung der Intelligenz, Ursprung und Entwicklung der technischen Zivilisationen, das Forschen nach sinnvollen Zeichen oder den Spuren einer Naturveränderung kosmischen Maßstabs im Weltall, Probleme und eventuelle Folgen der Kontaktaufnahme mit außerirdischen Zivilisationen...”[33]

Im ein Jahr früher entstandenen politischen Konzept Moralalgebra. Solidaritätsaktion (Morálalgebra. Szolidaritási akció)[34] ist unter anderem die Plakette abgebildet, welche 1973 und 1974 an Bord der Pioneer-Sonden 10 und 11 aus dem Sonnensystem in den interstellaren Raum katapultiert wurde.[35]

Die Plakette hatte die Funktion, die Möglichkeit einer Kommunikation zu schaffen, und in Erdély’s eben genanntem Werk geht es um die Verlagerung dieser Möglichkeit in die irdischen Dimensionen. Statt der kosmischen Kommunikation demonstrieren die Bilder der Moralalgebra eine irdische, womöglich einen ähnlichen Wahrscheinlichkeitsgrad aufweisende, Berührungsfolge, die den Zweck hat, für den Fall eines Krieges (des institutionalisierten Mordes) Schutz zu bieten. Erdély dient das Foto eines kambodschanischen Kopfjägers, der in beiden Händen einen abgeschnittenen Kopf hält, als Anlaß zu einer statistischer Rechnung: “Nach der Logik des Mordens kann, wenn jeder im Durchschnitt zwei Menschen tötet, die ganze Menschheit in 32 Schritten ausgerottet werden, da ein Mensch nicht zweimal getötet werden kann.” Demgegenüber könnten im Falle einer Gefahr, “wenn ein jeder nur zwei andere, unter Verzicht auf jedes institutionelle und Kommunikationsmittel, bezeichnen würde, in kurzer Zeit alle Menschen auf der ganzen Welt verständigt werden, und die Menschen könnten sich gemeinsam verteidigen. Der Probealarm der Solidarität geht zu einem gegebenen Zeitpunkt um die Erde.” Auf diese Selbstinitiative weist übrigens der Wandzeitungscharakter der Bildtafeln von Moralalgebra hin, auf denen Papierstücke mit den verschiedensten Berichtsmaterialien aufgesteckt sind. Für Erdély stellt die Wandzeitung eine ideale Form der Montage dar.[36]

Nachdem also Erdély die Erkenntnisse der Wissenschaft, welche die formale Logik und die Gesetzmäßigkeiten der Natur in Frage stellen, durchdachte, gelangte er zum Proklamieren einer moralischen Avantgardehaltung, nach welcher der Mensch, so Erdély in einem späteren Text, “seine Zuständigkeit hinsichtlich seines eigenen Lebens und Schicksals zur Kenntnis nehmen und an ihr über jede Grenze hinaus festhalten muß.”[37]

Gerade daher sind für den Künstler der Kontakt, der Dialog mit den Wissenschaftlern äußerst wichtig. 1974 organisiert Erdély eine Vortragsreihe mit dem Titel Ereignishorizont (Eseményhorizont).[38] Der Titel weist auf die Grenzfläche der schwarzen Löcher hin, die “sich mit der Bahn jener Lichtstrahlen deckt, welche im gegebenen Moment dem schwarzen Loch nicht entfliehen können.”[39]

László Beke faßt das Wesen dieser Vortragsreihe folgendermaßen zusammen: “Erdély führt, quasi als Ready-mades, naturwissenschaftliche Vorträge vor, die sich mit der Theorie der schwarzen Löcher beschäftigen (die Physiker Zoltán Perjés[40] und Frigyes Károlyházi), oder andere, sich auch mit der Kunst berührende theoretische Fragen aufwerfen (Vortrag des Altertumswissenschaftlers Árpád Szabó über das Beweisverfahren in den Naturwissenschaften und der Mathematik). Eingeleitet wird die Vortragsreihe durch Erdély’s Möglichkeitsuntersuchung (Leheség-vizsgálat) betitelte Thesen. Die eigentliche Eröffnung des Ereignishorizonts fällt jedoch aus: Erdély wollte die weiche, molluskenartige Beschaffenheit einer Daunen in das Koordinatensystem einer Handreißschiene hineinzwingen.”[41]

In der Möglichkeitsuntersuchung gelangt der Zeitreisende über eine unendliche Zeitraumkurve zu sich zurück, er wird identisch mit sich selbst. Zu dieser möglichen, aber kaum anschaulichen Vorstellung fand Erdély im Möbius-Band das “Anschauungsbild” und das Denkmodell, das ihn dann zu weiteren Thesen im Zusammenhang mit der Zeitreise (Zeit-Möbius (Idõ-Mõbiusz), 1976),[42] bzw. zu den Gesetz-Zufall Möbius (Törvény-véletlen Mõbiusz) betitelten Thesen inspirierten; letztere wurden auch als Montageserie unter dem Titel Gesetzmäßigkeiten (Törvényszerûségek, 1976) ausgeführt. 1976 organisierte Erdély eine Möbius-Ausstellung,[43] und im Einladungsrundschreiben erwähnte er neben dem Band noch ein weiteres topologisches “Ready-made”, den Kleinschen Schlauch, den er sogar bei einer Glasfabrik aus Glas anfertigen ließ.

“Zur Möbius-Vorführung

Das Möbius-Band hat eine Fläche und einen Rand. Der Kleinsche Schlauch ist ebenfalls ein Körper mit einseitiger Fläche, das heißt, seine Außen- und Innenfläche kann nicht unterschieden und nicht mit zwei verschiedenen Farben bemalt werden. Wenn wir in eine Kugel ein Loch schneiden und es mit einem Möbius-Band flicken, ergibt dies im Prinzip den Kleinschen Schlauch.

Das Möbiussche Band ist – obwohl es für die alltäglichen Betrachtung verdreht und ungewöhnlich erscheint – der Idee nach so einfach wie ein gewöhnliches Blatt Papier.

In der Natur kommen nur selten Flächen in der Art des Möbius-Bandes und des Kleinschen Schlauches vor (wenn der Elefant seinen Rüssel in den Mund nimmt, können wir dies z. B. topologisch als einen Kleinschen Schlauch betrachten). Derartige Flächen sind poetische, reingeistige Schöpfungen, in denen sich das Prinzip des Bewußtseins selbst manifestiert. Die Bedeutung dieser Tatsache besteht darin, daß in einer autonomen, von der Erfahrung unabhängigen geistigen Welt durch reine spielerische Kombinationen nicht nur neue, sondern auch spürbar einfachere Prinzipien entstehen können.

Wir veranstalten eine Möbius-Vorführung, weil wir auf die ästhetischen Werte des reinen Gedankens aufmerksam machen wollen und nicht zuletzt auch darauf, wie wir sie vor der aggressiven Anschauung, die Max Born als naiven Realismus bezeichnet, schützen können. Diese Anschauung stempelt das Denken gern als Spekulation ab und versucht es gerade im Zeichen der Einfachheit abzuwürgen. Ungewöhnliche geistige Bewegungen fern der unmittelbaren Erfahrung – in der Art wie es das Modell des Möbius-Bandes ist – lehnt diese Anschauung unter Berufung auf den nüchternen (Bauern)-Verstand ab. Den klaren Gedanken bezeichnet sie als abstrakt, um anderen und sich selbst diese Fähigkeit, die das humanste in uns ist, abzusprechen.“

Das Neue Yin-Yang-Zeichen (Új Jin-Jang jel, 1976), der durch die Vereinigung zweier Kleinschen Schläuche entstehende “Zeichenvorschlag” ist ebenso Erdély’s eigene Schöpfung wie die Möbiusecke (Mõbiusz-sarok, 1979). Die zweite, zweiseitige Grafik ist durch einen ähnlichen "Trick" entstanden wie das Möbius-Band. Eine ca. zwei Zentimeter vom Rande eines Papierblattes gezogene Linie wird über dessen geknickte Ecke ohne Unterbrechung auf der anderen Seite des Papierblattes so fortgesetzt, daß das Papierblatt am Rande der Ecke eingeschnitten, und die Linie durch den so entstandenen Schlitz gezogen wurde. Danach wurde das Papierblatt mit der Ecke am Schlitzentlang zusammengeklebt. Ein Werk, das kaum zu beschreiben ist, das jedoch auf den ersten Blick klar wird, während auch weiterhin rätselhaft bleibt.

Das Möbiusprinzip bot auch für ein altes künstlerisches Problem, mit dem sich Erdély ebenfalls um 1973/74 zu beschäftigen begann, eine Lösung. Zu dieser Zeit sind die Erkenntnistheoretischen Thesen sowie die Identifizierunstheoretischen Untersuchungen (Ismeretelméleti tézisek bzw. Anozosításelméleti vizsgálatok, 1973) entstanden,[44] in denen die Frage der Identität mit den Fragen des im Zusammenhang mit der Montage bereits erwähnten Gegensatzes von Kontinuität und Diskontinuität bzw. der Perzeption verknüpft wird. Sehe ich das gleiche Ding nicht kontinuierlich und verändert sich das Ding inzwischen, dann kann ich, wenn ich das Ding wiedersehe, denken, daß ich etwas anderes sehe. Die Schlußfolgerung: “Die Identität von etwas mit sich selbst wird durch die Kontinuität seiner Geschichte oder einfacher durch sein Schicksal bestimmt.” Dem Leben, der Wirklichkeit gegenüber sind nicht nur das Bewußtsein, sondern auch die traditionelle bildliche Darstellung “diskontinuierlich”. Erdély suchte in seiner Montagetheorie nach der Möglichkeit der Kontinuität innerhalb der “diskreten” Darstellung. In der traditionellen Repräsentation aber liegt die grundlegende Zweifachheit oder Gespaltenheit zwischen dem Modell, d. i. dem Original und der Darstellung, d. h. der Kopie, und die beiden können nie identisch, sondern nur ähnlich sein. Die Auflösung der Ambivalenz liegt im Prozeß, d. h. wenn Original und Abbild Teile derselben Form im gleichen Medium, auf einem Papierblatt, sind.

1974 entstand die Fotografik Original und Kopie (Eredeti és másolat), Erdély’s erster Versuch, das eben genannte Prinzip mit den Mitteln der bildenden Kunst umzusetzen; auf einem Fotopapier sind eine mit Bleistift ausgeführte Kritzelei und ihr Foto zu sehen. Die Kompliziertheit der Verwirklichung jedoch hat den Künstler nicht befriedigt.

Die im gleichen Jahr enstandene Komposition Schöpfungs-Geschichte (Einander zeichnende Bleistifte) (Teremtés-történet (Egymást rajzoló ceruzák)[45] formuliert das Prinzip, gleichsam auch die theologischen Grundlagen der abendländischen Bildtheorie affizierend, als die Dialektik von Schöpfer und Geschaffenem. “Ein nicht existierender Bleistift wird, indem er einen anderen Bleistift zeichnet, auch selber gezeichnet. Der gesamte zurückgelegte Weg ist der Umriß eines Bleistifts.” Erdély zeichnet den Prozeß als Comics, dem er dann Interpretationen beifügt, wodurch die Grafik einen gewissen Wandzeitungscharakter erhält.

Ein Punkt ohne Ausbreitung betrachtet sich selbst als die Spitze eines Bleistifts.

Er beschließt, einen Bleistift zu zeichnen. Er zeichnet die Spitze des anderen Bleistifts; er kann es tun, da zwei Punkte ohne Ausbreitung ebenfalls ohne Ausbreitung sind.

Als er sich bewegt, hinterläßt auch die andere, bereits gezeichnete Bleistiftsspitze eine Spur auf der Linie der Bewegung. Und so weiter (4,5,6), bis er den Bleistift umreißt (7). Sämtliche Bewegungen ergeben den Umriß eines Bleistifts, dennoch sind zwei Bleistifte entstanden.

1. Der Schöpfer entsteht durch das Schaffen.

2. Der Schöpfer wird dem Geschaffenen gleich.

(Swedenborg (1688-1772): “Das Universum hat Menschengestalt.”)

“Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde”

(Aus einem Zen-Koan) Tsui-Jen sprach jeden Tag zu sich:

- Heda, Meister!                                                 - Bitte.

- Bist du wach?                                                  - Jawohl.

- Paß auf, damit ich dich nicht hereinlege!            - Gut, ich werde aufpassen.

                                                                    

              Subjekt                                          Objekt

              Theorie                                          Praxis

Der Koan ist in eine Form hineingeschrieben, die an das Möbius-Band erinnert und durch die Verknüpfung zweier aus den Comics bekannten Wortblasen, d. h. Gedanken, entstand. Die auf das Dasein bezogenen Begriffspaare sind durch die ähnlich verknüpften Umrisse der Bleistifte umschlossen.

1977 “entdeckte” Erdély das Indigopapier als Lösung eines Darstellungsproblems, das ihn seit Original und Kopie beschäftigte. Er rollte das Indigopapier und das Zeichnungsblatt darauf zu einer Walze zusammen, wodurch die Kopie(n) der auf die obere Schicht der Walze gezeichneten Form etwas unschärfer auf dem Papier erschien(en). Um 1979/80 brachte ihm das Telexpapier die endgültige Lösung, mit dem er dann lange Grafiken anfertigte, in denen sich die ursprünglichen und mehrfach kopierten Formen und Linien miteinander verknüpft, einander ergänzend aneinander reihten. Diese Indigozeichnungen haben übrigens auch die in der traditionellen Kunst sehr wichtige Rolle des Gedächtnisses, zwar nicht in den Prozeß des Schaffens, aber symbolisch in die Struktur der Werke, zurückgeholt: im Geflecht der übereinander kopierten und immer unschärferen Schichten erkannte Erdély ein Modell für das Funktionieren des Gedächtnisses.

Von der zweiten Hälfte der 70er Jahre an erklärte Erdély den Konzeptualismus für abgeklungen und arbeitete nunmehr im Zeichen einer holistischen Anschauung und einer suprematistischen Haltung.[46]

Anfang der 80er Jahre schuf er neben feinlinigen Indigozeichnungen mehr “pastose” Bitumenbilder, die er als eine Weiterentwicklung der Montage betrachtete, sowie eine Reihe von Environments, unter ihnen die Komposition Zum Gedenken an das Konzil von Chalcedon (A kalcedoni zsinat emlékére),[47] die er aus bereits früher verwendeten, jetzt mit konkreten symbolischen Bedeutungen versehenen Materialien (Teerpappe, Glasscheiben, Matze, Blei, Telexpapier) zusammenfügte. Die zunehmend blasse Inschrift auf dem Telexpapier, das um die Wände des Raumes läuft, lautet: “99,999... % des Universums sind überflüssig”.

Die Interpretation der mit vielfachen Bedeutungsbezügen beladenen Komposition lieferte Erdély selbst, hier wollen wir daraus nur die Abschnitte zitieren, die sich auf die wissenschaftliche Atmosphäre der Zeit beziehen:

“Es gibt hier eine Überschrift, die lautet »99,99 % des Universums sind überflüssig«, und die Neuner davon werden zunehmend blasser. Eine andere Dimension führt eine Gegenbewegung aus und läßt sie blasser werden. Wir könnten es also auch so auffassen, daß das, was im Universum nicht überflüssig ist, diese Prozentzahl blasser macht. Warum ich mich in diesen Jahren mit diesen Dingen beschäftige? Weil die siebziger Jahre die Jahre des kosmischen Hoffnungsverlustes waren. Ich denke, jeder beschäftigt sich damit, gewöhnlich wird es nur ins Unterbewußtsein verdrängt oder man spricht nicht darüber, weil der Mensch eben nicht gern über unerfüllte Hoffnungen redet.

Das Verfliegen der Hoffnungen nahm seinen Anfang, als die Raumfahrt begann. An diese hatte jeder irgendwie die Hoffnung geknüpft, daß wir etwas erfahren würden, das unsere Weltanschauung in irgendeiner Weise erneuern könnte, daß wir in den Besitz irgendwelcher Informationen gelangen würden, wonach das geistige Wesen des Menschen nicht vollkommen auf sich gestellt sei, oder daß wir wenigstens irgendwo irgendeine Spur von Leben entdecken würden. Aber die Nachrichten, die reihenweise eintrafen, ließen uns alle irgendwie empfinden, daß es außer uns nichts gibt, was unsere Hoffnungen zunichte machte, gleichzeitig aber auch die Verantwortung für die menschliche Spezie erhöhte. Als drittes wird diese Tatsache durch die Zunahme der Gefährdung belastet. Es sind etwa diese drei Feststellungen, die die unbewußten Ängste des Menschen um seine eigene Existenz bestimmen. Zugleich war für die siebziger Jahre eine gewisse Informationssperre, eine wissenschaftliche Informationssperre, kennzeichnend, wodurch die Angst und die Unsicherheit noch weiter geschürt wurden. Denn wer es beobachtet hat, der weiß, daß in den sechziger Jahren viel mehr Nachrichten über wissenschaftliche Entdeckungen – über wesentliche wissenschaftliche Entdeckungen – eintrafen als in den siebziger Jahren. Dieses Unsicherheitsgefühl verlieh zugleich den Religionen eine neue Rolle. In den siebziger Jahren ... übten die Religionen Anziehungskraft aus, offenbar als Gegengewicht zu dieser Unsicherheit, die über winzige Kanäle jeden erreicht. Wenn wir zum Beispiel die Dialoge von Fontenelle, einem Philosophen des 17. Jahrhunderts, über die Pluralität der Welten (“Entretiens sur la pluralité des mondes“) lesen, begreifen wir, welche Hoffnungen der Mensch auf die Situation seiner Umwelt setzte. Die Identität des Schöpfers ist gleichzeitig sehr viel fraglicher geworden, denn die heutige Zeit präsentiert dem Menschen ein Universum, zu dem er sich keinen Schöpfer vorstellen kann. Er bemerkt fürchterliche Proportionsverschiebungen: In dem Weltraum – in dem wir leben – gibt es eine so unglaubliche Menge an völlig überflüssiger und jeder Intelligenz entbehrender Materie, daß ein Schöpfer, der eine derart leere Welt geschaffen hat, einfach unvorstellbar ist. Das heißt, der Mensch erkennt seine eigene Intelligenz in der Schöpfung nicht wieder. Zugleich verweist die unglaubliche quantitative Verschwendung, die im Weltall und auch im Leben zu spüren ist, auf einen Schöpfer, der, um den Menschen zu erschaffen, eine Riesenmenge an Material hinauswirft, die dann mit Hilfe des Zufalls unbedingt irgendwo ein mit derartiger Intelligenz gesegnetes Wesen produziert. Ob wir nun als Deisten oder als Materialisten denken, in jedem Fall müssen wir unbedingt die organisierende Rolle des Zufalls annehmen, denn der Zufall ist – wie es scheint – in der Lage, in sehr langer Zeit, durch sehr viele Permutationen wesentlich intelligentere Organisationen zustande zu bringen, als sich unser Gehirn vorstellen kann. So ist die biologische Sphäre beschaffen ... Dieses Telexpapier hat den Vorteil, daß die Rückseite Blaupapier ist, ein hellblaues Indigo, das mir jetzt gerade zur rechten Zeit in die Hand kommt, um die Heiterkeit auszudrücken, die der Himmel aus diesem informationsarmen Kosmos ausstrahlt.”[48]

Dieser Ton kehrt im Optimistischen Vortrag (Optimista elõadás) aus dem Jahre 1981 wieder, aus welchem oben, im Zusammenhang mit der Moralalgebra, der Satz über die Zuständigkeit des Menschen hinsichtlich seines Schicksals bereits zitiert wurde. Im Vortrag führt Erdély, nachdem er den großen Einfluß der modernen Wissenschaft und ihrer Methoden auf die Phantasie, die künstlerische Invention zusammenfaßt, die Ermüdung und Erschöpfung der Phantasie auf den Mangel an wissenschaftlichen Informationen zurück:

“Die phantastischsten Forschungen werden im Dienste der Kriegstechnik unter größter Geheimhaltung geführt. Kriegstechnik lautet der Rechtstitel, der die Veröffentlichung der Ergebnisse verhindert. Wir können sogar die Behauptung wagen, daß die Kriegsspannung auch dadurch und darum wünschenswert für diejenige ist, die eine Gefahr darin sehen, wenn alle in den Besitz des vorhandenen Wissens gelangen würden.”

Der Vortrag schließt mit dem optimistischen Satz: “Der Erfindungsreichtum des Anspruches wird schon irgendwie die Informationssperre umgehen können, früher oder später wird er die Möglichkeiten der Kommunikation mit dem Wesentlichen finden...”

Für die Wiener Orwell-Ausstellung im Jahre 1984 fertigt er das 3 x 4 Meter große Environment Kriegsgeheimnis (Hadititok) an, dem er im Katalog den folgenden Text beifügt:

“Mit meinem Beitrag zu dieser Ausstellung versuche ich die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß der autonome Mechanismus der Kriegsindustrie alles Übliche überwältigt. Die bewußtseinsverengenden, persönlichkeitszerstörenden Folgen dieser Erscheinung berühren das Sein des dem Unbekannten gegenüberstehenden menschlichen Wesens in ihren Grundlagen. Meiner Meinung nach ist das die wichtigste Determinante der Weltsituation im Jahre 1984.”[49]

Das Environment bestand aus einer bühnenähnlichen, aus Teerpappe, Persenning und Bitumen aufgebauten Konstruktion, in welcher auf der linken Seite eine Lichtzeitung, auf der rechten Seite drei leuchtende rote Lampen eingebaut waren. Gegen die Mitte stützte sich, das Leinen einreißend, eine Glasscheibe gegen die Konstruktion, die hinter den kulissenartigen, leicht verschobenen Paravents stark beleuchtet wurde; das “Überirdische” des Lichts wurde durch den lichtimitierenden weißen Farbauftrag auf der Glasscheibe erhöht. Auf der Teerpappe waren an mehreren Stellen psychologische Grafiken zur Veranschaulichung der Müller-Lyerschen Illusion mit Kreide und Farbe gezeichnet. Rechts oben stand in großen Buchstaben: “Kriegsgeheimnis”. Nach Aufstellung der Konstruktion faßte Erdély ihre Bedeutung für ihn selbst in einem Brief folgendermaßen zusammen:

“Nach vielen Schwierigkeiten ist mir gelungen, eine meinen ursprünglichen Vorstellungen nahestehende Installation zu machen... Ich durfte erst zwei Tage vor der Eröffnung nach Wien fahren, und die Arbeit wurde im letzten Augenblick, durch die physische Hilfe von Dóra Maurer, fertig. Ich konnte auch einige neue Effekte ausprobieren, wie etwa die einheitliche Verwendung von Licht, Farbe und des leuchtenden Farbstoffes. Den Einbau des beweglichen Textes (ein feiner Computer als Textschreiber) in eine Umgebung mit “povera art”-Stimmung usw. Diese Effekte weisen auf eine “Gesamtkunstwerk”-Bestrebung hin.”[50]

Hinter dem formalen “Gesamtkunstwerk” liegt auch eine ideelle Zusammenfassung. Das Wort “hinter” ist in diesem Fall nicht nur Metapher, da die Formen des Kunstwerks auf etwas “Hintergründiges” hinweisen. Das Licht, das hinter der Kulisse aus dem Hintergrund strömt, die drei roten Lampen, die nach der Dóra Maurer gegebenen Instruktion eine administrative Funktion erfüllen, deuten darauf hin, daß “dort drin gedreht wird”, d. h., es ist verboten einzutreten. Die psychologischen Grafiken, die die Täuschbarkeit der menschlichen Sinneswahrnehmung veranschaulichen, demonstrieren die Wahrheit des Satzes “der Schein täuscht”.[51] Und der thesenartige Text, der in genaue angegeben Intervallen auf der “präzise” eingebauten Lichtzeitung abrollt,[52] läßt den vollständigen Bedeutungskreis des Geheimnisses wie des Environments aufleuchten, jedoch durch ein Mittel, dessen Untauglichkeit zur Vorführung jeder tieferen poetischen Idee mehr als offenkundig ist. Im Zusammenhang mit der Lichtzeitung zitierte Erdély früher einmal Stan Brakhage: “Sich meine Filme einmal anschauen ist, als ob man einen Canto von Ezra Pound auf der Lichtzeitung lesen würde.”[53]

1.                Niemand weiß, was er nicht weiß – Kriegsgeheimnis

2.                Niemand weiß, wer es weiß – Kriegsgeheimnis

3.                Das Kriegsgeheimnis ist viel wichter als der, der es kennt

4.                Ein Kriegsgeheimnis ist das, was man nicht wissen, sondern

                   geheimhalten muß

5.                Alles, was wichtig ist, ist ein Kriegsgeheimnis

6.                Alles, was ein Kriegsgeheimnis ist, ist wichtig

7.                Das Kriegsgeheimnis ist wichtiger als das, worauf es sich bezieht

8.                Das Kriegsgeheimnis ist wichtiger als der, der es kennt

9.                Das Kriegsgeheimnis ist das, was man nicht wissen darf

10.              Alles kann wichtig sein

11.              Man darf nichts wissen – Kriegsgeheimnis

12.              Wer vertrauenswürdig ist – Kriegsgeheimnis

13.              Der, der weiß, wer vertrauenswürdig ist – Kriegsgeheimnis

14.              Überall, alles – Kriegsgeheimnis

15.              Nirgendwo weiß jemand, was ein Kriegsgeheimnis ist

16.              Das Erkennbare – Kriegsgeheimnis

17.              Das Unerkennbare – Kriegsgeheimnis

18.              Was vorhanden ist – Kriegsgeheimnis

19.              Was nicht vorhanden ist – Kriegsgeheimnis

20.              Der Trost – Kriegsgeheimnis

21.              Das Mögliche – Kriegsgeheimnis

22.              Das Unmögliche – Kriegsgeheimnis

23.              Das, was heilig ist – Kriegsgeheimnis

24.              Das, was nicht zu retten ist – Kriegsgeheimnis

25.              Das, was repariert werden kann – Kriegsgeheimnis

26.              Das, was unwiderruflich ist – Kriegsgeheimnis

27.              Die Zukunft – Kriegsgeheimnis

28.              Die Vergangenheit – Kriegsgeheimnis

29.              Die Gegenwart – Kriegsgeheimnis

In seinem Über das Geheimnis (A titokról) betitelten Text legt Erdély die Betonung statt der durch die historischen Machtinstitutionen und die Kriegsindustrie verschlossenen Information auf das Wissen, statt der wissenschaftlichen Fragen tritt also der biblische Baum der Erkenntnis in den Vordergrund:

“Der Begriff des Geheimnisses ist so alt wie die Menschheit und hing von Anfang an mit dem Verbotenen zusammen. Das Kosten von der verbotenen Frucht ist die Ursünde des Menschen... Das Verbot drückte von Anfang aus, daß der Mensch frei ist, denn das Unmögliche zu verbieten wäre überflüssig.”[54]

Die Institutionen und Staaten jedoch haben eigene Institutionen zur Bewachung der Geheimnisse eingerichtet, die einzig und allein ihr Bestehen garantieren. Demzufolge “werden den Menschen durch die Zerstörung ihrer Perzeptionsfähigkeit, durch das Lüften manipulierter und unverständlicher Informationen echte, jedoch durcheinandergemischte Berichte serviert, wodurch sie sich nicht nur einander, sondern bereits sich selbst entfremden”, und zuletzt weiß man gar nicht mehr, wer das Geheimnis besitzt.

“Diese maßlose Rationalität kann nur durch ein Geheimnis ähnlichen Maßes aufgehoben werden, in dessen Richtung man jedoch keinen Schritt tun darf, vor dem der Mund verstummt und der Geist erlahmt. Am Ende sieht der Mensch ein, daß er nur eins tun kann: jedes Denken, was über das vegetative Sein hinausgeht, einzustellen; die Spuren des noch nicht ganz vollgeführten Bisses zu glätten und den Apfel vorsichtig wieder an den Baum zu hängen.”

In den Aufzeichnungen,[55] die weitere “hintergründige” Bedeutungen des Kunstwerks beleuchten, konnte Erdély mit den Tönen glücklichen paradiesischen Unwissens experimentieren:

Die Welt ist unbarmherzig und klug, ich bin dumm und glücklich.

Warum wurde ich als Idiot geboren?

Warum ist es gut, daß du nichts verstehen kannst?

Warum bin ich glücklich, daß ich dumm bin?

Warum werden dumme Pazifisten gebraucht?

Wenige.[56]

In diesem seeligen Rausch tauchen aber auch Sätze auf, die den aus Orwells Roman bekannten Worten der Selbstzensur und Selbstverleugnung sehr ähnlich sind und an den Ton von Dirac erinnern: “Kriegsgeheimnisse gibt es nicht / Das Ganze ist Schmarren.”

Daß Erdély während der Arbeit am Werk den Zustand, den man als Orwellsche Situation bezeichnen könnte, erlebt hat, darauf können wir aus dem um diese Zeit entstandenen Gedicht Meine süßen Faschisten (Aranyfasisztáim) schließen.

“Jetzt, da ich nach vierzig Jahren aus meiner ersten Empörung wieder

zu mir komme,

jetzt, da sich das Ausmaß der natürlichen und künstlichen

Leichenberge auszugleichen scheint,

jetzt, da sich der Verdacht »hier ist alles faschistisch«

in mir einzunisten beginnt,

da ich die einzeln in die Gebärmutter einvaginiert, einvaginierten,

einwaggonierten Seelen zähle,

die nur zur Arbeit geholt, an die Luft, aufs Land, in immer schönere Berg-

und-Tal-Gegenden gebracht werden,

da die Verwandten und Freunde in den Krankenhäusern vermengelesiert werden,

da sie nur ins Jenseits zur Arbeit gebracht werden, aufs jenseitige Land,

an die frische Luft,

da das Jenseits gesund ist, Nachrichten von dort aber verboten sind,

da auch dort drüben Arbeitskräfte gebraucht werden,

oder wenn nicht, dann der, der schon einmal gelebt und gearbeitet hat,

doch noch für etwas gut sein wird ...“[57]

Eine apokalyptische Situation, zu der wir in den Entwürfen zum Kriegsgeheimnis die bildliche Darstellungen finden: der große Teil der “Bühne” ist durch die Silhouetten menschlicher Figuren ausgefüllt, eine Masse, die durch die Öffnung verschwindet. Hinter dem Paravent liegt das auch im Gedicht erwähnte Jenseits, und derjenige, der bei der Ausführung des Environments assistiert, kann sich einen sehr plastischen Eindruck über die Beschaffenheit dieses Jenseits machen. Das Bitumen muß nämlich in geschmolzenem Zustand auf die Teerpappe gegossen werden, und der unbeschreiblich feine Geruch des Bitumens mischt sich mit dem durch den heißen Stoff ausgelösten unerträglichen Rauch.

Orwells Roman wird als eine negative Utopie beschrieben. Erdély hingegen interessierte die positive Utopie, das Katastrophenbewußtsein bezeichnete er als ein falsches,[58] und die Vorstellungen über die Zukunft stempelte er in den 1971 entstandenen Extrapolationsübungen[59] als Dummheiten ab: “Im Taumel ihrer Zeit projizieren die Menschen ihre augenblickliche Anschauung auf das ganze Universum (siehe C.E.T.I.).”

In den Jahren zwischen 1983 und 1986 hat sich Erdély hauptsächlich der Malerei gewidmet, die zu dieser Zeit entstandenen Gemälde und Grafiken betrachtete er ebenfalls als Weiterentwicklungen des Montageprinzips: die Farben hat er wie jedes andere Material “zusammenmontiert”, fast immer stand jedoch ein einziges Motiv im Mittelpunkt. Er wollte die exakten Zeichen “zermalen”, verunsichern.

Zu den häufig verwendeten Motiven gehört die Wurzel von -1, die eine imaginäre Zahl ist[60] und die Interpretierbarkeit der imaginären Malerei jenseits der Gegenwart konkreter Formen selbst über die mathematische Abstraktion hinausschiebt. Zum anderen führte Erdély Verfahren in den malerischen Prozeß ein, die an sich zwar in der Praxis der Malerei nicht neu sind, neu ist jedoch die Art und Weise ihrer Behandlung. Das Gemälde Koestler (1984) trägt den Untertitel Illustration zu Koestlers Werk ‘Die Wurzeln des Zufalls’. Der scheinbar zufällige rote Fleck, mit dem Erdély die unbemalte Leinwand mit Absicht “beschmutzt” hat, legt nur den Ausgangspunkt der “Komposition” fest. “Im weiteren hatte ich die Aufgabe, dagegen zu arbeiten, die Sünde, die ich auf der Leinwand beging, durch verschiedene andächtige Formen auszugleichen.”[61]

In der endgültigen Komposition dominieren geometrische Strukturen, über die sich Erdély im kurzen Kommentar, den er 1984 bei einer Fernsehaufnahme zur “Gelegenheitsinstallation” mit dem Titel Similis simili gaudet gab, folgendermaßen äußerte:

Im Augenblick zeichne ich am liebsten. Meine bisherige Arbeit möchte ich vielleicht am besten mit dem Begriff malerische Geometrie bezeichnen. Der geometrische Aspekt drückt meine Beziehung zur Wissenschaft aus. Ich wollte immer eine Lösung für Wissenschaft und Kunst. Ich fühlte immer, daß die Wissenschaft mir auch ästhetische Freude bereitet. Ja, ich wußte immer, daß die Wissenschaft auch ästhetische Aspekte hat. Die Erkenntnis ist auch Ästhetik. Diese Einsicht hilft der Wissenschaft und umgekehrt. Oder die Geometrie selbst wird zum malerischen Effekt. Das Bild, das erscheint, ist so fein, so zart und schwerelos wie die exakte Wissenschaft des menschlichen Bewußtseins. Diese Arbeit ist ein gutes Beispiel dafür. Das ist ein wesentlicher Aspekt meiner Tätigkeit. Der andere ist, daß ich gerne Gelegenheitsarbeiten mache.[62]

Ein wesentliches Element der Installation bestand in einem eingeschalteten Fernsehgerät, das mit einer durchsichtigen Schleier bedeckt war. Die amerikanische Filmszene, die gerade im ungarischen Fernsehen lief, erreichte dann mittels der über die Installation gedrehten deutschen Fernsehaufnahme die deutschen Zuschauer - gleich und gleich gesellt sich gern. Erdély beabsichtigte damit, wie er sagte, eine Persiflage auf den west-östlichen Kulturaustausch.[63]

Im Zeichen der Beziehungen zwischen Wissenschaft und Kunst sowie Ost und West entstand auch die Ausstellung A mûvészeten túl / Jenseits von Kunst, nunmehr unter anderen historischen und gesellschaftlichen Umständen als die, unter denen Miklós Erdély gearbeitet hat - wenngleich wir noch nicht mit endgültiger Sicherheit sagen können, ob nach “1984”.

Gerade in den letzten Tagen hat man an einem 1984 gefundenen Meteorit, das vermutlich vom Mars stammt, die Zeichen des Lebens entdeckt. Ob diese Nachricht, die von vielen mit Skepsis empfangen wird, außerhalb oder innerhalb der Grenzen der Kunst ihre wahre Bedeutung finden wird?

Für die Kopernikus-Gedenkausstellung im Jahre 1973 schuf Erdély die Objektgruppe Das Auge der Vernunft (Az ész szeme), die aus zwei Teilen bestand: aus einem Gipsblock in Form eines Auges, aus zwei Röntgenaufnahmen, die aus verschiedener Perspektive von diesem Block gemacht wurden, sowie aus der Inschrift “in sich selbst sieht es, was außen ist”. Auf den Röntgenaufnahmen jedoch ist nichts besonderes zu sehen, nur das “Licht” der im Inneren leeren Kugel. Dafür erinnern sie stark an die Aufnahmen ferner Galaxien, und vielleicht ist es das, was wir sehen - was wir überhaupt wissen können.

 

Übersetzt von Lajos Adamik

Dirac vor der KinokasseAhnungenMolluskeSchwurC.E.T.I.MoralalgebraKleinscher SchlauchNeue Yin-Yang ZeichenSimilis simili gaudet

Miklós Erdély: Mondolat

Miklós Erdély: Möglichkeitsuntersuchung

Miklós Erdély: Zeit-Möbius

Miklós Erdély: Gesetz-Zufall Möbius

Schöpfungs-GeschichteIndigozeichnung

[1] E. M.: Sejtések (Ahnungen) II.

[2] Manuskript im Erdély-Nachlaß.

Kriegsgeheimnis

[4] E., M. : Beszélgetések a világok sokaságáról (Filmsynopse nach dem Werk von Bernard le Bovier de Fontenelle). In: E., M.: A filmrõl (Filmelméleti írások, forgatókönyvek, filmtervek, kritikák). (Über den Film. Schriften zur Filmtheorie, Drehbücher, Filmpläne, Kritiken.) Válogatott írások (Ausgewählte Schriften) II, zusammengestellt von Miklós Peternák. Budapest: Balassi Kiadó – BAE Tartóshullám – Intermédia, 1995. S. 239.

Koestler

Annamária Szõke

“Die Gegenwart der Zukunft: ein Rätsel”[1]

Wissenschaft innerhalb der Kunst im Werk von Miklós Erdély

Ungarisch

Miklós Erdély (1928-1986) war Architekt, Dichter, Filmregisseur und bildender Künstler, eine sehr wichtige Persönlichkeit der ungarischen nicht-offiziellen Kunstszene der 60er, 70er und 80er Jahren. Manchmal ist er als „der ungarische Beuys” genannt, womit vielleicht gemeint wäre, daß er sich für eine Kunst einsetzte, die die wichtigsten existentiellen und spirituellen Fragen des menschlichen Lebens betrifft. Der für die neueste geistige und künstlerische Strömungen immer geöffnete Erdély zählte in dem Sozialismus als einer der „gefährlisten” Avantgardekünstler, eben darum sein Oeuvre ist noch nicht allgemein bekannt. Er konnte seine Gedanken doch in verschiedenen, von ihm geleiteten, als alternatives Künstlerausbildungsstudio geltenden Gruppen (Kreativitätsübungen, FAFEJ - Phantasiebildende Übungen, INDIGO - Interdisziplinäres Denken) weitergeben und verbreiten. Seine Schlüsselbegriffe waren Kreativität und Interdisziplinarität.

Der vorliegende Aufsatz (Essay) wurde anläßlich der im Museum Ludwig Budapest und in der neuen Galerie Graz mit dem Titel Jenseits von Kunst veranstalteten Ausstellung geschrieben, in deren Katalog eine verkürzte Version des Textes zu lesen ist. Das Thema der Ausstellung war die Beziehung zwischen der Wissenschaft und der Kunst, mit besonderer Rücksicht auf die hervorragende Errungenschaften der ungarischen und österreichischen Wissenschaftler, beziehungsweise auf die Erscheinung des wissenschaftlichen Weltbildes in den Künsten. Die wichtigsten Themenkreisen der Ausstellung waren Wahrnehmungstheorie und Kinetik, Symmetrie und Symmetriebrechung, Mathematik und Informatik, Kybernetik, Messung und Beobachtung, Wissenschafts- und Kunsttheorie, Spieltheorie, Evolutionstheorie, Psychoanalyse,  visuelle Kommunikation, und in der Vorbereitungsphase auch die Quantenphysik. Von ungarischer Seite wurden, unter anderen, auch die Werke von Miklós Erdély ausgestellt, der sich intensiv  mit den Möglichkeiten der Annäherung und Verknüpfung von den Natur- und Humanwissenschaften, beziehungsweise des wissenschaftlichen und künstlerischen Denken auseinandersetzte. Mehrere von den oben genannten wissenschaftlichen Gebieten nahmen einen wichtigen Platz in seiner vielseitigen künstlerischen und philosophischen (theoretischen) Tätigkeit ein.

[3] In: Bernard le Bovier de Fontenelle: Beszélgetések a világok sokaságáról (Gespräche über die Vielheit der Welten), Magyar Helikon, Budapest 1979. “Die hier versammelten Texte von Fontenelle, vor allem die ‘Gespräche’, vermitteln uns also einen Rückblick in jene wallende, vom Kampf der Theorien unruhige Epoche der Entstehung der modernen Naturwissenschaften, ein Zustand, den die Physik erst in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (zur Zeit, als die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik enstanden sind) wieder erlebte.” – schreibt Márta Fehér in dem Nachwort (S. 232.).

Miklós Erdély: Molluske (Molluszkum), 1970, Pécs

[5] E., M.: Montázsgesztus és effektus (Montageaffekt und -effekt). In: E., M.: A filmrõl, 1995, S. 148.

[6] Beszélgetés Erdély Miklóssal 1983 tavaszán (Gespräch mit Miklós Erdély im Frühjahr 1983) (Interview von Miklós Peternák). In: Árgus 5/1991, S. 78.

[7] S. Beke, László: Erdély Miklós munkássága. Krono-logikai vázlat (Das Lebenswerk von Miklós Erdély. Ein chrono-logischer Entwurf). In: Katalog zur Ausstellung von M. E. in der Óbuda Galéria, Budapest 1986, S. 2.

[8] Die Fortsetzung des Zitates lautet: “sondern was zum Munde ausgeht, das verunreinigt den Menschen” (Matth. 15,11)

[9] S. Anm. 6, S. 78.

[10] Erdély beschäftigte sich viel mit den nichtrationalen Bewußtseinsformen (z. B. dem Aberglauben), den sog. Pseudowissenschaften (z. B. Magie) usw. In bezug auf Frazer behauptete er, “die Logik der Magie sei dieselbe Logik wie die der Wissenschaft” (In: Árgus 5/1991, S. 88.).

[11] Sein Interesse für das Thema wurde unter anderem durch die Familienbibliothek genährt, wo auch die einschlägige Fachliteratur aus der Zeit vor dem II. Weltkrieg vorhanden war.

[12] S. Anm. 6, S. 78. Die Bezeichnung ‘Quark’ hat “Murray Gell-Mann..., der 1969 den Nobelpreis erhielt, jenen elementaren Teilchen” gegeben, die kleiner als Protonen und Neutronen sind... “Die Bezeichnung geht auf eine rätselhafte Stelle bei James Joyce zurück: ‘Drei Quarks für Muster Mark!’ (Finnegans Wake). Das Wort quark wird von den Engländern im Prinzip wie das Wort quart, die ein etwas größeres Hohlmaß als das Liter bezeichnet, ausgesprochen, jedoch so, daß es sich auf lark, so viel wie ‘Nachtigall’, reimt.” (Stephen W. Hawking: Az idõ rövid története (Eine kurze Geschichte der Zeit), Maecenas, Budapest 1989, S. 75)

[13] Veröffentlicht: Sejtések (Ahnungen) I-II. In: Híd, 1970/10-11. 1068-1070. Wieder abgedruckt in: E. M.: Kollapszus orv. Magyar Mûhely, Paris 1974, S. 90-96. Magyar Mûhely, Paris, Wien, Budapest, 1991 (Reprint). Dirac a mozipénztár elõtt (Dirac vor der Kinokasse), in: Kollapszus orv. 1974, S. 57-60. Reprint ebd.

[14] In der Bibliothek von M. E. waren viele Bände aus der entsprechenden Reihe des Gondolat Verlags enthalten. Es seien hier nur die wichtigsten aufgezählt: Einstein, Albert: A speciális és általános relativitás elmélete (Spezielle und allgemeine Relativitätstheorie), Budapest 1963; Bohr, Niels: Atomfizika és emberi megismerés (Atomphysik und menschliche Erkenntnis), Budapest 1964; Planck, Max: Válogatott tanulmányok. Az új fizika világképe  (Ausgewählte Schriften, Das Weltbild der neuen Physik), Budapest 1965; Heisenberg, Werner: Válogatott tanulmányok (Ausgewählte Schriften) Budapest 1967; Broglie, Louis de: Válogatott tanulmányok (Ausgewählte Schriften), Budapest 1968; Einstein, Albert: Válogatott tanulmányok (Ausgewählte Schriften), Budapest 1971; Wigner, Jenõ: Szimmetriák és reflexiók. Válogatott tanulmányok (Symmetrien und Reflexionen. Ausgewählte Schriften), Budapest 1972; Born, Max: Válogatott tanulmányok (Ausgewählte Schriften) Budapest 1973; Wiener, Norbert: Válogatott tanulmányok (Ausgewählte Schriften), Budapest 1974; Heisenberg, Werner: A rész és az egész. Beszélgetések az atomfizikáról (Das Teil und das Ganze. Gespräche über die Atomphysik), Budapest 1975; Gábor, Dénes: Válogatott tanulmányok (Ausgewählte Schriften), Budapest 1976; Weisskopf, Victor F.: Fizika a huszadik században. Esszék, tanulmányok (Die Physik im 20. Jh. Essays und Aufsätze), Budapest 1978; Végtelenség és világegyetem. A Modern Természettudomány Filozófiai Kérdéseinek Tudományos Tanácsa és A Szovjetunió Tudományos Akadémiájának Filozófiai Intézete közös kiadása (Unendlichkeit und Weltall. In Zusammenarbeit vom Wissenschaftlichen Rat für Philosophische Fragen der modernen Naturwissenschaften und vom Philosophischen Institut der Akademie der Wissenschaften der SU herausgegeben), Budapest 1974. Auf die Aufsätze im letzten Band beruft sich Erdély in seiner Schrift über den „Montageaffekt „. Auch nach Aussage seines Sohnes hat er „oft im Buch geblättert”.

[15] Die Laut (Hangos) und Zahlreich (Számos) betitelten Abschnitten in: M. E.: Kollapszus orv. Magyar Mûhely, Paris, 1974.

[16] Anaxagorasz: A hó fekete (Anaxagoras: Der Schnee ist schwarz, 1971). in: M. E.: A filmrõl, 1995, S. 49-50.

[17] Új misztika felé. Sebõk Zoltán beszélgetése Erdély Miklóssal. (In Richtung zu einer neuen Mystik. Gespräch von Zoltán Sebõk mit M. E.), in: Híd, 03/1982, S. 375-376.

[18] Die Beschreibung der Aktion in: “Iparterv” 68-80, Budapest 1980, S. 74.

[19] In: Heisenberg, Werner: A rész és az egész. Beszélgetések az atomfizikáról (Das Teil und das Ganze. Gespräche über die Atomphysik), Gondolat Kiadó, Budapest 19782 S. 339-340.

[20] Veröffentlicht in: “Iparterv” 68-80, Budapest 1980, S. 77-80.

[21] „Contraria non contradictoria sed complementa sunt. - Diese ist vielleicht die kürzeste und frappanteste Formulierung des berühmtes Komplementaritätsprinzips von Niels Bohr: die gegensätzlichen Elemente sind nicht kontradiktorisch, sondern ergänzen sich in entsprechender Weise.” Tibor Toró in: Kvantumfizika, mûvészet, filozófia (Quantenphysik, Kunst, Philosophie), Kriterion, Bukarest 1982, S. 9.

[22] „...wissen wir die genaue Position des Elektrons, dann wissen wir nicht, mit welcher Geschwindigkeit es sich bewegt, und wenn wir seine Geschwindigkeit kennen, dann wissen wir nicht, wo es sich befindet.” (ebd. S. 11.)

[23] . „...Planck hat die im 19. Jh. erreichte Harmonie der physikalischen Anschauungen mit einem einzigen Gedanken zerstört... Der Kern dieses Gedankens lautet: die Energie ist keine kontinuierliche Quantität, die Energieveräderungen können sich nicht in beliebig kleinen Mengen vollziehen, sondern nur in solchen, die zwar klein, jedoch genau bestimmt und endlich sind.” Vorwort von Lajos Maróti in: Planck, Max: Válogatott tanulmányok. Az új fizika világképe (Ausgewählte Schriften, Das Weltbild der neuen Physik), 2., erw. Aufl., Gondolat, Budapest 1982, S. 13.

[24] Vekerdi, László: Az “egy” és a “sok” (Das “Eine” und das “Viele”), in: L. V.: Tudás és tudomány (Wissen und Wissenschaft), Typotex, Budapest 1994, S. 89.

[25] “Im klassischen Denken wie in der klassischen Malerei wurde die Bedeutung der Dinge entweder durch das Helldunkel des Gegensatzes oder das Unendlich-Zentrische des vanishing points bestimmt. Das Modell des modernen Denkens hingegen könnte das Radio oder das Fernsehen sein, welche die Reihe von an sich bedeutungslosen Zeichen durch ein vorgeschriebenes Programm zu ‘sinnvollem’, d. h. nach einer allegmein verständlichen Kode dekodierbarem, Text oder Bild organisiert.” (ebda. 90-91.) - In diesem Zusammenhang sollte das Fluchtpunkt (Enyészpont) betitelte Werk des Künstlers aus dem Jahre 1980 erwähnt werden, auf welchem entlang einer die Horizontlinie ersetzenden Schnur achtmal die Ziffer Eins, dann eine Zwei und eine Drei aneinandergereiht sind. Die Kommas jedoch, die zwischen den Einsen gesetzt sind und nach rechts immer kleiner werden, legen die Stelle des Fluchtpunkt irgendwo zwischen der letzten Eins und der Zwei fest. Die auf das Papierblatt geklebten Grashalme hingegen sind metaphorisch, indem sie auf die Vergänglichkeit hinweisen.

[26] Vgl. M. E.: “In einem seiner Vorträge hat er seine Zuhörer aufgefordert, sich jeden Tag die Russelsche Antinomie der Mengentheorie als Abendsgebet aufzusagen, da dadurch die eigene alltägliche Rationalität in einer Art und Weise angegriffen wird, die nahezu an Andacht reicht.” (Bartholy, Eszter: Erdély Miklós: Bújtatott zöld (M. E.: Verstecktes Grün), in: Magyar Mûhely, Nr. 67, 15. Juli 1983, S. 65.) Die Russelsche Antinomie besagt, daß die Menge aller Mengen, die sich selbst nicht als Element enthalten, dann und nur dann Element ihrer selbst ist, wenn sie nicht Element ihrer selbst ist.

[27] In dieser “geistesgeschichtlichen Annäherung” beruft er sich auf Heidegger und C. Lévi-Strauss. Für die soziologische Begründung kann die Ableitung der Montagetechnik aus der veränderten modernen Umwelt als Beispiel genannt werden: „Die Erfahrung der Umwelt als 'Realmontage', in: Annegret Jürgens-Kirchhoff: Technik und Tendenz der Montage in der bildenden Kunst des 20. Jahrhundert. Ein Essay.  Anabas-Verlag, Giessen, 1984. Diese Affassung vertrat übrigens in der Montagediskussion der Soziologe Elemér Hankiss.

[28] Im Zusammenhang mit dem Gegensatz von Bewußtsein und Wirklichkeit kann noch eine philosophische Voraussetzung genannt werden, die zwar einen ungarischen Bezug hat, von Erdély jedoch kaum bekannt gewesen sein dürfte: die vitalistische Naturphilosophie des Melchior Palágyi. Palágyi veröffentlichte im Jahre 1901 einen Aufsatz mit dem Titel “A tér és az idõ új elmélete” (Die neue Theorie von Raum und Zeit), die von späteren Fachwissenschaftlern als eine Voraussetzung der Relativitätstheorie betrachtet wurde, später beschäftigte er sich mit den Fragen der Quantentheorie. Seine naturphilosophischen Anschauungen haben sowohl Ludwig Klages als auch Arnold Gehlen beeinflußt. Die Naturphilosophischen Vorlesungen Palágyis (Über die Grundprobleme des Bewußtseins und des Lebens, Leipzig 1924) untersuchen die Entstehung des Bewußtseins und betonen ebenfalls dessen “diskretes” Funktionieren gegenüber der Kontiniutät vegetativer Lebensprozesse. Palágyi war bekanntlich mit Bertalan Székely befreundet, der in Ungarn mit seinen Forschungen über die Bewegung des Pferdes alleinsteht, mit E. J. Marey stand er ebenfalls in Beziehung. Es soll hier ein Satz Erdély’s aus Mondolat zitiert werden, wo er auf die wissenschaftlichen und künstlerischen Voraussetzungen des späten 19. Jahrhunderts hinzuweisen scheint: „Glaubst du, daß das Ganze, solange es durch Teilung zu sich selbst zurückfindet, alles mögliche sein kann, auch ein Pferd oder ein Fotoapparat?”

[29] In: M. E.: A filmrõl , 1995 S. 146.

[30] Die psychologischen, psychoanalytischen und religiösen Bezüge der Montage bilden jedoch nur ein Bruchteil des Bezugsfeldes, das die Montage in Erdély’s Montagetheorie einnimmt. Die Montagediagramme, die ihm als Demonstrationsbilder, als logische Tabellen seiner Vorträge dienten, machen das besonders anschaulich. Hier kann nur auf die Reproduktionen hingewiesen werden.

[31] Jön a farkas! Ismeretterjesztõ akciók, szemléletformáló gyakorlatok, 02.05.1973. Ganz-MÁVAG Mûvelõdési Központ, Budapest. Teilnehmer waren: László Beke (Demonstration über Ursprung und Funktion der Kunst anhand des Hirtenmädchens von István Ferenczy und der Beerdigung Togliattis von Renato Guttuso) und Tamás Szentjóby (Aktion 3 x 8 24)

[32] Erdély Miklós. Ausstellungskatalog Óbuda Galéria, Budapest, 1986, S. 12., bzw. Manuskript.

[33] CETI Kommunikation mit der extraterrestrischen Intelligenz. Bestimmungen der ersten sowjetisch-amerikanischen Konferenz über die Kommunikation mit der extraterrestrischen Intelligenz, in: Fizikai Szemle. Az Eötvös Loránd Fizikai Társulat lapja (Physikalische Rundsschau, hrsg. von der Eötvös Loránd-Gesellschaft für Physik), Jg. XXII Nr. 3, 1972. Bericht in Ungarisch auf der Rückseite der Zeitschrift.

[34] Morálalgebra. Szolidaritási akció (Moralalgebra. Solidaritätsaktion), 1972. Drehbuch zum Konzept, das in 5 db Fotomontagen und statistischen Tabellen realisiert wurde, von denen die letzte mit einem Tuch bedeckt war und das hypothetische Datum der Aktion enthielt, das vom Zuschauer abgetastet werden sollte. 1972 wurde das Werk in der Foksal Galerie in Warschau ausgestellt, der heutige Aufbewahrungsort ist unbekannt. 1974 schickte Erdély für die vom CAYC (Centro de Arte y Comunicación, Buenos Aires, Argentinien) organisierten Ausstellung Festival de la Vanguardia Húngara vermutlich eine andere Fassung des Werks, und der ungarische, Szolidaritási akció betitelte Text ist wahrscheinlich zu diesem Anlaß entstanden (László Beke).

[35] In: Karl Clausberg: Kosmische Visionen. Mystische Weltbilder von Hildegard von Bingen bis heute . Dumont, Köln 1980, S. 216.

[36] In: Erdély, Miklós - Beke, László: Egyenrangú interjú  (Ein gleichrangiges Interview) (16. April 1978), in: Hasbeszélõ a gondolában (Bauchredner in der Gondel). Bölcsész Index, Budapest 1985, S. 187. Daß Moralalgebra die Montage verschiedener Ideen ist, wird durch eine Zeichnung Erdély’s bestätigt, welche zwei Fotos von der Tabelle, das eines Geburtshelfers mit dem Neugeborenen in den Händen und die Aufnahme über den kambodschanischen Kopfjäger, kombiniert. Darunter die Notiz: „Beziehungen: 1. ewige Wiederkehr (Nietzsche) 2. Kombinatorik, 3. ein- bzw. zweiarmige Hebel, 4. Calders Waagenskulpturen, 5. H. Shapley’s Proportionalität: Stern / Mensch = Mensch / Atom, 6. Selbstverteidigung”

[37] M. E.: Optimista elõadás  (Optimistischer Vortrag), 1981. In: M. E.: Mûvészeti írások (Válogatott mûvészetelméleti tanulmányok I.) (Schriften zur Kunst, Ausgewählte Schriften zur Kunsttheorie I), Hrsg. von Miklós Peternák. Képzõmûvészeti Kiadó, Budapest 1991, S. 133.

[38] Fiatal Mûvészek Klubja, Budapest, der 18.04.1974 ist das Datum der Eröffnung, die Vorträge haben erst später stattgefunden.

[39] S. W. Hawking a. a. O., S. 95. - „Der Ausdruck schwarzes Loch ist sehr neu. 1969 hat ihn der Amerikaner John Wheeler erfunden, als er eine mindestens zweihundert Jahre alte Vorstellung veranschaulichen wollte.” (ebd. S. 89)

[40] Zoltán Perjés hat die Teilnahme zuerst verweigert, sein Brief im Nachlaß Erdély’s dokumentiert die anfängliche Einstellung eines Wissenschaftlers zur Frage der Zusammenarbeit zwischen Kunst und Wissenschaft. Perjés hat seinen Vortrag im Juli 1974 gehalten (Mitteilung von László Beke):  “Lieber Herr Erdély, in Bestätigung unserer früheren Telefongespräche muß ich Ihnen leider mitteilen, daß ich die sehr beehrende Einladung zur Teilnahme an der “Ereignishorizont” betitelten Programmreihe nicht annehmen kann. Wenngleich ich mit der Idee des Vortrags unbedingt sympathisiere, bin ich der Meinung, daß sie ein Gebiet der Wissenschaft berührt, wo der Zuschauer ohne entsprechende Fachausbildung zu leicht zur falschen Schlußfolgerung gelangen kann, wonach wissenschaftliche Ergebnisse bestimmte idealistische Anschauungen bestätigen würden. Den Interessen der Wissenschaftspropaganda kann auf diesem Gebiet m. A. n. vorerst durch die sachlich-populärwissenschaftliche Arbeit am besten gedient werden. Daß die wissenschaftlichen Ergebnisse heute wichtige Inspirationsquellen für die Kunst sind, ist auf jeden Fall eine erfreuliche Erscheinung.

Budapest, am 22. März 1974. Mit freundlichen Grüßen Zoltán Perjés”

[41] In Manuskript.

[42] An diese knüpft die Zeitreise betitelte, fünfteilige Fotomontageserie an, in der Erdély die Behauptungen der Thesen durch das Zusammenmontieren seiner eigenen , aus verschiedenen Lebensaltern stammenden Fotos demonstriert.. Erste Veröffentlichung und Reproduktion der Serie in: Sorozatmûvek (Kortárs mûvészet magángyûjteményekben 2) (Serienwerke, Zeitgenössische Kunst in Privatsammlungen 2), Csók István Képtár, Székesfehérvár, 12.12.1976 - 05.01.1977.- Erdély führte eine Reihe von Arbeiten im Zusammenhang mit der Zeit aus. “Die entscheidende Bewußtseinsmutation der Gegenwart wird m. A. n. durch die Veränderung unserer Vorstellungen über die Zeit ausgelöst.” (In: Árgus, 5/1991, S. 85)

Szövegdoboz: [43] Fiatal Mûvészek Klubja, Budapest, vom 04.01.1976 an.

[44] In: Második kötet . Magyar Mûhely, Paris, Wien, Budapest 1991, S. 86-87. Deutsche Übersetzung: Wiederholungstheoretische Thesen. Identifizierungstheoretische Untersuchungen. (übs. von Otto Zwickl), in: Das offene Bild. Aspekte der Moderne in Europa nach 1945 . Westfälisches Landesmuseum Münster, 15.11.1992-07.02.1993, Museum der bildenden Künste Leipzig, 08.04.-31.05.1993. Kat. Edition Cantz, 1992, S. 87-89. Die Thesen und die Fotomontagen dazu hat Erdély zum ersten Mal auf der kunsttheoretischen Sitzung “Ismétlõdés, párhuzamosság, ritmus” (Wiederholung, Parallele, Rhythmus) (MTA Irodalomtudományi Intézet, 18-19.04.1973) sowie auf der Ausstellung vorgestellt, die zum Anlaß der Kultur und Semiotik betitelten Konferenz zur Semiotik (Tihany, 26-29.05.1974) veranstaltet wurde.

[45] Ausgestellt in den Ausstellungen Képregény (Comics) (Fiatal Mûvészek Klubja, Budapest, April 1975) und Szimmetria (Symmetrie) (Magyar Nemzeti Galéria 1989).

[46] S. Erdély, Miklós - Beke, László: Egyenrangú interjú , 1985, S. 186-187. Einen Vergleich von Erdély’s holistischer Auffassung mit der von Fritjof Capra hat János Fehér unternommen: A gondolat szépsége és a szépség gondolatisága (Adalékok Erdély Miklós holisztikus mûvészetszemléletéhez) (Die Schönheit des Gedankens und die Gedanklichkeit der Schönheit. Beiträge zur holistischen Kunstauffassung von M. E.). Dissertation. József Attila Tudományegyetem Bölcsésztudományi Kar, Szeged 1990.

[47] Ausstellungen: Bercsényi Kollégium, Budapest, 18. März 1980; Prospekt 80/1. 6 Hongaarse Kunstenaars. Museum van Hegendaagse Kunst, Gent, 03.29.-04.27.1980.

[48] In: M. E.: Mûvészeti írások , 1991, S. 148-153.

[49] Die deutsche Übersetzung des ungarisch nur in Manuskript vorhandenen Textes in: “1984”. Orwell und die Gegenwart . Museum moderner Kunst, Wien 1984, S. 139.

[50] Manuskript im Erdély-Nachlaß.

[51] S. die diesbezüglichen Notizen von M. E. (in Manuskript).

[52] Der hier veröffentlichte Text ist in Manuskript erhalten, und ist im wesentlichen identisch mit dem Text, der in der Budapester Ausstellung von Kriegsgeheimnis auf der Lichtzeitung lief (Ausstellung Frissen festve (Frisch gemalt), Ernst Múzeum, 1984.) Der Text der Lichtzeitung in der Wiener Ausstellung wich davon ab.

[53] E., M.: A filmezés késõi fiatalsága (Die späte Jugend des Filmens), in: E., M.: A filmrõl, 1995, S. 177.

[54] E., M.: A titokról (Über das Geheimnis), in: Új Symposion, 1-2/1985, S. 1213.; Világ, Jg. 1, Nr 21, 12.10, 1989, S. 44.; Új Hölgyfutár 7. A Lap, 4/1989, S. 35.

[55] Manuskript im Erdély-Nachlaß.

[56] Der “Realismus” des letzten Satzes kann mit dem Pazifismus der Moralalgebra verglichen werden, wo die nicht reale Selbstverteidigung auf die gemeinsame Aktion “Aller Menschen” baute.

[57] In: E., M.: Második kötet, 1991, S. 20-21.

[58] S. Anm. 48, S. 185.

[59] In: E., M.: A filmrõl, 1995, S. 240-241.

[60] Erdély’s Beschäftigung mit den Zahlen sollte ein besonderes Kapitel gewidmet werden. Hier können wir nur einige Beispiele nennen wie den Zyklus Számos (Zahlreich), die Gedichte Nagy Számok (Große Zahlen) und Számozottak (Nummerierte), das in der Montagetheorie über die Rolle der zu großen Zahlen Gesagte (in: E., M.: A filmrõl, 1995, S. 155), das Gesetz der großen Zahlen u. a. m.

[61] Interview von Annamária Szõke mit M. E., 25. Februar 1986. Manuskript.

[62] Ungarische Kunst heute. Ein Film von Dr. Michael Kluth unter Mitwirkung von László Beke und Lóránd Hegyi, WDF - WDR, 1984.

[63] Vgl. László Bekes Worte über eine Aktion Erdély’s aus dem Jahr 1976: “Mit verbundenen Augen und verstopften Ohren versucht er, mit einem polnischen Radioapparat ein Gespräch zu führen, in Anbetracht dessen, daß die Bedingung der Kommunikation die Anpassung und der Radioapparat blind und taub ist.”  (Najnowsza Sztuka Wegierska, Galeria Sztuki Najnowszej, Wroclaw/Polen, 20.04.-20.05.20.1976) Diese unmögliche Kommunikation spielte bereits in der im IPARTERV aufgeführten Klips-Aktion eine Rolle: “Ich stellte auf das Kissen ein Radio, das ich nach meinem Plan zu Beginn des Abendjournals einschalten wollte und am Bett sitzend, mit je einem Fünf-Kilo-Gewicht an meinen beiden Ohren, zu Ende hören wollte. Infolge einer Zeitverschiebung jedoch mußte ich das Abendsjournal durch das Abspielen eines entsprechend vorbereiteten Tonbandes ersetzen. „ (S. Anm. 18)

Miklós Erdély: Similis simili gaudet, 1984. Gelegenheitsinstallation, Teerpapier, Netz, Ölfarbe, Spray, Kreide, Fernsehgert, 100 x 272 cm. Nachlaß des Künslers. (Foto: György Erdély)

Miklós Erdély: Koestler. Illustration zu Koestlers Werk ‘Die Wurzeln des Zufalls, 1984. Nachlaß des Künslers. (Foto: László Lugosi Lugo)

Miklós Erdély: Kriegsgeheimnis, 1984. Environment. Teerpappe, Persenning, Bitumen, Glas, Lampen, Lichtzeitung, Ölfarbe, Kreide, 300 x 460 cm. Ausgestellt im Museum des 20. Jahrhunderts, Wien. (Foto: Dóra Maurer?) Museum Ludwig, Budapest

Miklós Erdély: Neue Yin-Yang-Zeichen, 1976. Graphik, c. 29,5 x 42 cm. Nachlaß des Künslers. (Foto: László Lugosi Lugo)

Miklós Erdély: Kleinscher Schlauch, 1975-76. Ready-made. Glas, c.17 x 10 cm. Zerbrochen. (Foto: László Lelkes)

Miklós Erdély: Indigozeichnung, 1980. Bleistift auf Telexpapier, 21 x 43 cm. Nachlaß des Künslers. (Foto: László Lugosi Lugo)

Miklós Erdély: Schöpfungs-Geschichte (Einander zeichnende Bleistifte), 1974. Graphik, c. 50 x 70 cm. Nachlaß des Künslers. (Foto: László Lugosi Lugo)

Miklós Erdély: Moralalgebra. Solidaritätsaktion, 1972. Fotomontage. Das zweite Stück der Serie. (Foto: Nachlaß des Künslers)

Miklós Erdély: Der Wolf kommt! Populärwissenschaftliche Aktionen, anschauungsformende Übungen

Miklós Erdély: Das Auge der Vernunft, 1973. Gips, Röntgenaufnahmen. Sammlung von István Haraszty. (Foto: László Lugosi Lugo)

Miklós Erdély: Drei Quarks für König Marke: Ahnungen; Dirac vor der Kinokasse, 1968. Performance. IPARTERV Zentrale, Budapest. (Foto: Nachlaß des Künslers)

Miklós Erdély: Schwur, 1969. 6 Fotographien, je c. 29,5 x 21 cm. Nachlaß des Künslers. (Foto: László Lugosi Lugo)

Miklós Erdély: Zum Gedenken an das Konzil von Chalcedon, 1981, Rekonstruktion: 1998, Kunsthalle, Budapest (Fotó: László Lugosi Lugo)

Miklós Erdély: Montage-diagramm, um 1975

Miklós Erdély: Die Geschichte des Zufalls

Miklós Erdély: Extrapolationsübungen